An was denkst du als Erstes, wenn du an Dominanz und Hingabe denkst? 50 Shades of Grey? Oder Dominas und Sklaven?

Wie würdest du sagen, sind diese Rollen in deiner Beziehung verteilt? Vielleicht nicht in ihrer Extremform, sondern milderen Abstufungen von „Wer bestimmt, was gemacht wird, und wer macht mit?“

Wenn du dir Liebes- und Erotikromane, Mainstream-Filme & Pornos anschaust, sind die Geschlechterrollen meist klar verteilt: Der Mann gibt den Ton an, die Frau gibt sich dem hin. Heute wird das alles sehr romantisiert dargestellt, in früheren Jahrhunderten war es schlicht die Pflicht der Ehefrau.

Und bis heute prägt dieses Bild die Sexualität vieler Paare.

 

Was besagt die Polaritätenlehre im Neo-Tantra?

Tantra_Polaritäten_Geschlechterrollen

Genau die gleichen Geschlechterrollen findest du auch im Neo-Tantra. Nur dass sie hier in einer esoterisch-blumigen New-Age-Sprache verpackt sind.

Die „weibliche Energie/Shakti/Yin“ wird oft mit Begriffen wie Empfangen, Hingabe, Loslassen, Heilen und Kreativität assoziiert, während für die „männliche Energie/Shiva/Yang“ Begriffe wie Durchsetzungskraft, Führungsqualität, Bewusstsein, Kontrolle, Klarheit, Verstand, Entschlossenheit und Zielstrebigkeit verwendet werden.

All das entspricht sehr stark den alten patriarchalen Geschlechterrollen, die wir seit Jahrzehnten in unserer Gesellschaft versuchen zu überwinden. Mutmaßlich hat es auch nicht viel mit den hinduistischen oder buddhistischen Wurzeln des Tantra zu tun. Sondern hier haben westliche Lehrer*innen einfach Begriffe übernommen und sie in einer für ihre Vorstellungen passenden Art und Weise interpretiert.

Zwar gestehen auch Neo-Tantriker*innen oft allen Menschen zu, beide Seiten (männlich und weiblich/ Yin & Yang/ Shiva & Shakti) in sich zu tragen. Denn dies sei beispielsweise im Job oder fürs spirituelle Wachstum notwendig.

Geht es aber um Sex und Erotik, soll die Frau ganz in ihre „weibliche Energie“ und der Mann ganz in seine „männliche Energie“ gehen. So entstünde eine starke Polarität, und nur damit seien sexuelle Anziehung und intensive Erlebnisse möglich. Die oben beschriebenen „Energien“ werden also explizit vom jeweiligen Geschlecht eingefordert.

Als ich selbst vor beinahe 10 Jahren das erste Mal mit Tantra in Berührung kam, glaubte ich dies eine Zeit lang auch selbst. Mein damaliger Job erforderte viel „männliche Energie.“ Und wenn ich dann abends heimkam und nur schwer in meine „weibliche Energie“ switchen konnte, bekam ich so gleich noch ein schlechtes Gewissen, weil ich meine vermeintliche Rolle nicht richtig ausfüllte. Weil ich (nach Neo-Tantra-Maßstäben) nicht „richtig“ Frau war.

Doch irgendwann ging mir auf: Moment mal, bevor ich diesen Quatsch gehört und gelesen hatte, war das doch eigentlich gar kein Problem? Und der Sex irgendwie auch spannender und vielfältiger?

 

Dominant sein, weil Frauen davon fantasieren?

Geschlechterrollen_Polaritäten_Dominanter Mann

Ein weiteres Argument für die Polaritätenlehre lautet folgendermaßen: Viele Frauen hätten ohnehin die Fantasie, beim Sex dominiert zu werden, daher sei ein dominierender Mann für sie besonders sexy.

Dass viele Frauen Unterwerfungsfantasien haben, ist richtig. Ob dies nun naturgegeben ist oder schlicht auf den Bildern und Geschichten beruht, die unsere Kultur hervorgebracht hat, ist allerdings ein hinterfragenswertes Henne-Ei-Problem. Da niemand in Isolation aufwächst, ist es leider schwer untersuchbar.

Zudem ist Fantasie nicht gleich Wunsch. Beispielsweise fantasieren viele Frauen davon, vergewaltigt zu werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie sich dies auch in der Realität wünschen.

Doch selbst wenn man dieses Argument weiter denkt, fällt auf: Die Unterwerfung findet in der Fantasie statt. Und in dieser Fantasie bestimmt die Frau nicht nur darüber, was sie selbst tut, sondern auch, was ihr Gegenüber tut.

Falls also die Frau über einen Mann fantasiert, macht dieser exakt das, was sie sich wünscht. Er fasst ihr zum Beispiel genauso in die Haare oder an den Hals, wie es ihr gefällt. Passt sein Tempo und seine Grobheit den unausgesprochenen Wünschen der Frau an. Leckt, fingert oder stößt sie genauso, wie sie es am liebsten hat.

 

Was passiert nun aber in der Realität?

Der Mann, der ohne Rücksicht auf Verluste dominiert, wird den Sex so gestalten, wie es ihm gefällt. Die Frau so anfassen, wie es ihm gefällt. Das Tempo so gestalten, dass es ihm gefällt. Oft eher zu schnell für die Frau, denn so hat er es wahrscheinlich schon in unzähligen Pornos gesehen und beim Solosex praktiziert. Und in der Regel heißt das auch: Sex = Penetration.

Seine gelebte „Dominanz“ fühlt sich für sie schnell an wie überrumpeln, verursacht ihr vielleicht sogar Schmerzen oder Ekel. Aus Hingabe wird so schnell ein über sich ergehen lassen.

Die ersten Male, die man vielleicht lang ersehnt hat, mag das vielleicht noch aufregend erscheinen. Wenn sie jedoch langfristig beim Sex nicht oder kaum auf ihre Kosten kommt, wird sie künftig weniger Lust darauf haben. Ein Teufelskreis, in dem sich viele langjährige Paare befinden.

Zudem kommt sie seltener zum Orgasmus. Dass Frauen beim Mann-Frau-Paarsex weit seltener kommen als die Männer, ist in zahlreichen Studien erwiesen. Schaut man sich allerdings den Solosex oder Frau-Frau-Paarsex an, kommen weit mehr Frauen zum Orgasmus.

Es liegt also nicht an anatomischen Unterschieden oder der mystischen weiblichen Psyche. Sondern schlicht daran, wessen Wünsche und Bedürfnisse beim Sex erfüllt werden.

Zugegeben: Das oben gesponnene Beispiel ist schon die Extremform dieser Geschlechterrollen. Glücklicherweise sind meine Klient*innen in der Regel nicht nur an ihrem eigenen, sondern auch am Wohlergehen ihres Partners/ ihrer Partnerin interessiert. Bei selbst ernannten Neo-Tantra-Gurus passt das Beispiel dagegen leider oft recht gut.

 

So könnt ihr euren Sex wirklich verbessern

Arten der Liebe_Philia

Statt euch also an althergebrachte Geschlechterrollen anzupassen – und so langfristig unbefriedigenden Sex zu haben – könnt ihr mit diesen Rollen spielen. Und dabei auch herausfinden, was Sex für euch wirklich gut und erstrebenswert macht.

Dominanz und Hingabe sind dabei kein Schwarz/Weiß, sondern ein Spektrum, auf dem ihr euch bewegen könnt. Wer gibt den Ton an, wer gibt sich hin? Wie intensiv oder zart ist euer Sex? Welche Sexpraktiken machen euch wirklich an?

Die meisten Menschen haben auf diesem Spektrum erst mal ihre bevorzugte Position. Diese stimmt oft, aber nicht immer mit den oben genannten traditionellen Geschlechterrollen überein. Vielleicht wäre es also spannend, mal in die andere Richtung zu pendeln. Denn welcher Mann will nicht auch mal entspannen und sich fallen lassen, welche Frau sich nicht mal nehmen, was sie will?

Dieses Pendeln funktioniert am besten, wenn ihr euch vorab darüber austauscht, was eure Wünsche, Interessen und Grenzen sind. Sprich: Was würdest du gern mal ausprobieren, was sollte auf gar keinen Fall passieren?

Und klar: Diese oft seit Kinderzeiten eingebrannten Geschlechterrollen zu verlassen ist nichts, was von heute auf morgen passiert. Auch deine erotischen Wünsche und Grenzen besser kennenzulernen ist ein Prozess.

Kleine und große Schritte, ausprobieren, sich überwinden, verwerfen oder für gut befinden, spielen, miteinander lachen – all das macht diese spannende Entdeckungsreise aus.

Und falls ihr euch dafür ganz konkrete Ideen, ein behutsames Schritt-für-Schritt-Herangehen, Anregungen für Dates und eine professionelle Begleitung wünscht: In wenigen Wochen startet wieder mein Onlinekurs für Paare, in dem ihr all das bekommt.

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Anmerkung: Ich wertschätze Menschen und sexuelle Orientierungen in all ihrer Diversität und befinde mich dabei als weiße able-bodied cis-Frau natürlich auch selbst in einem kontinuierlichen Lernprozess.

In diesem Text geht es um cis-geschlechtliche heterosexuelle Paare. Nicht, um eine Norm aufzustellen oder andere Beziehungen abzuwerten, sondern um ein häufiges Problem in dieser Konstellation aufzuzeigen.

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